Über Gegenwelten
Es gibt überraschend viele real gelebte Utopien, die im „globalen Dorf“ offiziell nicht existieren dürften und nur über Umwege vom „Mainstream“ anerkannt werden. Mikronationen. Kommunen und „Eco-Villages“. Sezessionsbewegungen. Enklaven. Sekten. Squatter. Neo-Pagans. Neue Wilde und wandernde nomadische Stämme im urbanen Raum. Wie jede Subkultur, die sich gerade in Bewegung und Entwicklung befindet, lehnen sie alle einen einheitlichen Überbegriff ab. Ihnen allen gemeinsam aber ist die kreative Flucht vor der Engmaschigkeit einer als erdrückend erlebten Weltordnung und die Selbstdefinition als souveränes Territorium, das sich anders als die anderen gibt.
Mit Fantasienamen wie Rübezahlia, Molossa, Nobinobi und durch die oftmalige Selbsternennung zum Königreich sind Mikronationen die ungewöhnlichste Form der Abkapselung. Wer hat noch nie davon geträumt König zu sein und sein Wort regieren zu lassen? Mikronationen nutzen dabei geschickt Grauzonen des nationalen wie internationalen Rechts. Sie deklarieren ihren eigenen Staat in verlassenen Minen oder Tempeln, auf Sandbänken und Riffs auf offener See. Meist aber sind es bestimmte Stadtteile oder Farmen, wo es strittig ist, welche Staats- oder Besitzansprüche dafür geltend gemacht werden können. Die Erklärung zum Königreich als nationalstaatliche Form ist dabei nicht nur Narzissmus,sondern juristisch gesehen die leichteste Form sich zu konstituieren und international auch akzeptiert zu werden.
Mikronationen berufen sich dabei auf die 1933 beschlossene Konvention von Montevideo, nach der ein souveräner Staat eine ständige Bevölkerung, ein definiertes Staatsgebiet, eine Regierung und die Fähigkeit, mit anderen Staaten in Beziehung zu treten, haben muss. Neben diesen besitzen Mikronationen meist auch eine eigene Währung, Staatshymnen, Gesetze, Briefmarken, Zeitungen, manche eigene Öko-Systeme und Kirchen, manchmal sogar eigene Sprachen. Sie haben meist eine sehr kleine Population. Oft sind es einzelne Individuen, Familien oder der Freundeskreis. Manche setzen den Schritt zum Weltenerbauen aus Geschäftemacherei, aus existentieller Not, aber auch als politische Agitation. So etwa annektierte Dale Parker Anderson, König des Gay and Lesbian Kingdom of the Coral Seas, eine winzige Sandinsel vor der australischen Küste, um mit der Schaffung einer „neuen Heimat“ gegen die australischen Gesetze zu gleichgeschlechtlichen Ehen zu protestieren. Zwei Jahre nach der Gründung wurde der Hügel im offenen Meer bepflanzt und die exklusiv homosexuelle Bevölkerung kann ein ständiges Camp bewohnen. Darüber hinaus befindet man sich im transnationalen Handel mit dem englischen Commonwealth.
Das Hauptziel ist die Anerkennung durch andere Staatsmächte, bevorzugt durch die UNO. Es zahlt sich aus, denn schließlich resultiert das in diplomatischer Immunität, Unabhängigkeit, Steuerfreiheit im Fall der Abnabelung von anderen Ländern. Es berechtigt zu Handelsabkommen und Wirtschaftszweigen wie Waffenherstellung und medizinische Behandlungen, die anderswo verboten wären. So besitzt ein einfacher westaustralischer Farmer wie Leonard Casley alias Prince Leonard mit seiner Hutt River Province acht offizielle Botschaften in aller Welt und unterhält lukrative diplomatische Beziehungen mit zahlreichen afrikanischen Staaten. Die Principality of Sealand, ursprünglich britische Radiopiraten, die in den Sechzigern eine verlassene Flugabwehrplattform vor der Küste von Essex besetzt hatten, nutzten internationales Seerecht um im Gerichtsprozess mit England frei gesprochen und über diesen Umweg als souveränes Land anerkannt zu werden.
Nur marginal sind die Unterschiede zu Sezessionsbewegungen, wo ausdefiniertes Gebiet mit eindeutigem Hoheitsanspruch dem eigenen System und der Selbstverwaltung einer Gruppe unterstellt wird. Dieses Prinzip des Annektierens findet sich geschichtlich in nahezu allen Staatsgründungen bis hin zu Israel wieder. Besonders politische Rebellen und kommerzieller agierende Piraten nutzten immer schon offen oder versteckt fungierende Enklaven. Größter heutiger Vertreter ist sicher die moldawische Abspaltungsrepublik Transnistrien, die mit einer halben Million Einwohner einzig von Russland anerkannt wird und stolz ist unter den Indexen der Mikronationen geführt zu werden. Aber auch in den USA finden sich Gruppen wie die Free State Party in New Hampshire oder der FreeState Vermont, die mit ganzen Bundesstaaten ausscheren wollen.
Das Durchspielen dieses Prinzips im Kleinen durch die Hausbesetzung, das so genannte Squatting, scheint sich im Gegenzug überlebt zu haben. War es zu den Hochzeiten der urbanen Punkbewegung noch gang und gebe öffentliche Strukturen und Stadtgebiete einfach zu übernehmen, stehen heute prominente Vertreter wie Kopenhagens selbst verwalteter Stadtteil Christiania vor dem Aus. Heute sind es eher die Öko-„Raver“ der „Rainbow Gatherings“ und der „Radical Faeries“, die über Jahre in „Happenings“ temporär Landstriche okkupiert hatten und nun beginnen langsam sesshafte Strukturen aufzubauen.
Den „non-violent takeover“, die friedliche Übernahme, praktizieren „Intentional Communities“ und Öko-Dörfer. Diese haben ihr Territorium meist auf normalem Weg erworben, grenzen es aber dennoch von der Restwelt ab um als Gemeinschaft ein Ressourcen schonendes Leben zu ermöglichen. Ebenso wichtig sind soziologische, moralische und spirituelle Prämissen abseits des Normverständnisses. Hier beruft man sich am deutlichsten auf die kurzlebigen „positiven“ Utopien der Sechziger und Siebziger, auf Kommunarden und Ökobewegung. Doch mit den Neunzigern setzte eine deutliche Professionalisierung der überlebenden und der neu gegründeten Projekte ein. Mit den „Eco-Villages“ sind auch klare Hierarchien, Infrastrukturen und Machtinsignien wie eine eigene Währung, Gesetze, Flaggen hinzugekommen. Die größten unter ihnen funktionieren heute nicht nur als alternative Gesellschaften, durch die jährlich tausende arbeitswillige Aktivisten und zahlungskräftige Touristen strömen. Sie sind auch kleine esoterisch geprägte Wirtschaftsimperien und beeinflussen die „normale“ Lokalpolitik des umliegenden Landes maßgeblich mit.
Paul Poet